Freie Universität Berlin
Berlin
Deutschland
In demokratischen Gesellschaften gilt Protest gemeinhin als akzeptierte Form der öffentlichen Meinungsäußerung und/oder politischen Einflussnahme und ist – wie in Deutschland – zumindest partiell gesetzlich geschützt. Insbesondere durch Protestformen, für die die physische Präsenz (oft einer großen Menge) von Personen konstitutiv ist, wie beispielsweise bei einer klassischen Demonstration, nehmen die Protestierenden ihr grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Versammlungsfreiheit „als Freiheit zur kollektiven Meinungsäußerung“ (Leusch 2023) wahr; sie nehmen für eine funktionierende Demokratie „grundlegende und unentbehrliche Funktionselemente“ (ebd.) in Anspruch. In demokratischen Gesellschaften ermöglicht Protest unterrepräsentierten Gruppierungen, für sich und ihre Anliegen Aufmerksamkeit zu generieren und Gehör zu finden: „Protest gilt als eine Artikulationsform der institutionell schwach repräsentierten Teile der Bevölkerung, als Indikator für gesellschaftliche Probleme, als Motor gesellschaftlicher Veränderung und als Innovator demokratischer Praktiken“ (Ullrich & Sommer 2021). Protest äußert sich oft als Kritik an der Regierungsarbeit oder der Arbeit anderer politischer Institutionen der Machtausübung (Rechtssystem, Polizei, Militär u.ä.). In autokratischen Gesellschaften gilt Protest an Herrschaftsstrukturen dagegen in der Regel als zu unterdrückende Gefahr: Das Recht auf öffentliche Kritik ist teilweise oder gänzlich eingeschränkt, Protestausübung wird gewaltsam niedergeschlagen, Beteiligte werden verfolgt, eingeschüchtert, bedroht.
Jenseits der Pole Gebot und Verbot ist die Legitimation von sozialen Protestformen kontinuierlich gesellschaftlichen Deutungskämpfen unterworfen. Dabei kann sich das Urteil der Legitimität sowohl auf die Form des Protests als auch auf die transportierten Inhalte bzw. Forderungen beziehen. Jüngere Beispiele der diskursiven Legitimierung bzw. Delegitimierung von Protest sind die sowohl rechtlich als auch medial unterschiedlich behandelten Proteste der Letzten Generation („Klimakleber“) und der Landwirt:innen (2023 und 2024). In der öffentlichen Wahrnehmung wurde zwar das Anliegen der Letzten Generation (Einhaltung der Klimaziele) überwiegend als legitim eingestuft, die Form aber (z.B. Straßenblockaden durch Ankleben von Körperteilen oder Formen von Adbusting) sowohl im Presse-Diskurs als auch in der staatlichen Reaktion delegitimiert und kriminalisiert. Für die wesentlich disruptiveren und in Teilen offen rechtsextremen Aktionen und Positionen der Landwirt:innen (Traktorblockaden, Bedrängung von Politiker:innen, Verwendung rechter Symbole) dagegen wurde politisch und medial zuweilen mehr Verständnis entgegengebracht. (De)Legitimierungskämpfe gibt es jedoch auch im Arbeitskampf (z. B. Angemessenheit von Streikmitteln), rollenbezogen (darf/soll ein Pfarrer gegen den Kardinal protestieren?) oder domänenbezogen (politische Gesten auf dem Spielfeld?). Sowohl der Protest selbst als auch seine diskursive Aufarbeitung konstituieren sich „in sprachlich kommunikativen Handlungsprozessen, also in semiotisch- praktischen Verfahren (…), die durch öffentlich wahrnehmbare Akteure vollzogen werden. Verhandelt werden dabei soziale, kollektiv verbindliche und somit gleichsam politische Themen“ (Dang-Anh, Meer & Wyss 2022: 2). Nicht zuletzt ist Protest aufmerksamkeitspolitisch privilegiert, er erhält in der mediopolitischen Öffentlichkeit mehr Resonanz als Zustimmung und ist daher auch für politische Akteure des Mainstreams ein strategisches Instrument zur Selbstpopularisierung. Im Rahmen der Tagung möchten wir anhand aktueller Entwicklungen im In- und Ausland die sprachlichen und kommunikativen Strategien diskutieren, mit denen rivalisierende Akteure verschiedene Protestformen zu legitimieren oder zu delegitimieren versuchen:
1. Wo verlaufen im öffentlichen Diskurs die explizit verhandelten oder auch implizit akzeptierten Grenzen zwischen ‚erlaubten‘ oder gar ‚wünschenswerten‘ und tabuisierten und sanktionierten Protestformen?
2. Wie verschieben sich diese Grenzen über die Zeit, welche Dynamiken lassen sich im Verlauf einer Protestbewegung beobachten (wenn zunächst als legitim erachtete Protestformen umgedeutet werden)?
3. Welche Diskursakteure, Domänen (insb. Medien, Politik, Recht, Religion, Wissenschaft), sozioökonomischen Rahmenbedingungen, kommunikationsstrategischen Praktiken und semiotischen Ressourcen tragen maßgeblich zur Konstitution öffentlicher Akzeptanzgrenzen gegenüber (il)legitimen Protestformen bei?
Call for Abstracts
Zu diesen und ähnlichen Fragen laden wir dazu ein, Vortragsvorschläge mit Abstracts im Umfang von etwa 800 Wörtern bis zum 31.10.2024 einzureichen. Die Beiträge der Tagung sollen nach einer Begutachtung durch das Herausgeberteam in einem Fokusband der Reihe Diskursmonitor zum Jahresende 2025 erscheinen (Print und online/Open Access).
Literaturverzeichnis
Dang-Anh, Mark, Meer, Dorothee & Wyss, Evelyn (2022): Zugänge und Perspektiven linguistischer Protestforschung. In (ders.): Protest, Protestieren, Protestkommunikation. Berlin, Boston: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110759082.
Fahlenbrach, Kathrin (2002): Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation und kollektive Identitäten in Protestbewegungen. Wiesbaden.
Leusch, Katharina (2023): Verfassungsblog. https://verfassungsblog.de/demonstrieren-schwer-gemacht/ ; Zugriff 22.04.2024.
Rucht, Dieter (2016): Die medienorientierte Inszenierung von Protest. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/236953/die-medienorientierte-inszenierung-von-protest/ ; Zugriff 22.04.2024.
Ullrich, Peter und Sommer, Moritz (2021): Protest. In: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen. Hg. von der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention. Veröffentlicht am 13.8.2021. Online unter: https://diskursmonitor.de/glossar/protest ; Zugriff 22.04.2024.